Cover
Titel
Vom ungerechten Plan zum gerechten Markt?. Konsum, soziale Ungleichheit und der Systemwechsel von 1989/90


Autor(en)
Villinger, Clemens
Reihe
Kommunismus und Gesellschaft
Erschienen
Berlin 2022: Ch.Links Verlag
Anzahl Seiten
576 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manuel Schramm, Institut für Europäische Geschichte, Technische Universität Chemnitz

"Die DDR-Bevölkerung wollte die Leistungsgesellschaft und bekam den Kapitalismus": Mit dieser These schließt Clemens Villinger seine interessante und lesenswerte Dissertationsschrift über Konsum im Systemwechsel von 1989/90 ab. Ebenso originell wie die These ist die Anlage der Untersuchung. Villinger stützt sich nämlich nicht primär auf Archivquellen, wenngleich diese für die 1980er-Jahre durchaus herangezogen werden, sondern auf eine Sekundäranalyse von Interviews, die in drei verschiedenen sozialwissenschaftlichen Studien in den frühen 1990er-Jahren geführt wurden. Sie fanden in dem thüringischen Dorf Merxleben, der sächsischen Kleinstadt Wurzen und in Leipzig statt, sodass Unterschiede in den Konsumpraktiken zwischen Stadt und Land berücksichtigt werden können. Das Interesse richtet sich auf die Konsumfelder Ernährung und Wohnen, die den Alltag der Menschen besonders prägten. Die Untersuchung möchte aus einer alltagsgeschichtlichen Perspektive die Konsumpraktiken und die damit verbundenen Erfahrungen der Menschen in der langen Geschichte der "Wende" von circa 1980 bis Mitte der 1990er-Jahre in den Blick nehmen. Die Untersuchung des Konsums wird dabei verknüpft mit einerseits einer wissensgeschichtlichen Orientierung: "Wie sich Ostdeutsche nach 1989 neues Wissen über den Konsum in der Marktwirtschaft aneigneten, auf welche bereits zuvor erworbenen Wissensbestände sie dabei zurückgreifen konnten und welche Auswirkungen die Etablierung neuer Wissensordnungen auf den Alltag hatte, sind zentrale Fragen dieses Buchs" (S. 53); und andererseits der Frage nach sozialer Ungleichheit: "Was die Menschen in den Untersuchungsorten unter dem Begriff der Leistung verstanden, wie sich diese Verhältnisse wandelten und welche Vorstellungen von gerechter Ungleichheit sich damit verbanden, ist eine zentrale Frage dieses Buches." (S. 57)

Der Aufbau der Untersuchung folgt den einzelnen Fallstudien an den genannten drei Orten, wobei jeweils zunächst der Entstehungskontext des Interviewmaterials nachgezeichnet wird, bevor dann die Konsumfelder Ernährung und Wohnen jeweils vor, während und direkt nach dem Umbruch von 1989/90 behandelt werden. Die Gliederung ist somit durchaus stringent. Dennoch ist das Material heterogen, da es sich um eine Sekundärauswertung von drei ganz unterschiedlich angelegten Studien handelt, sodass den Interviews keine einheitliche Fragestellung zugrunde gelegen hat. Dadurch werden in manchen Abschnitten Probleme thematisiert, die in anderen Teilen mangels aussagekräftiger Quellen fehlen (zum Beispiel Geschlechterverhältnisse, die nur für Leipzig thematisiert werden).

Der erste Abschnitt widmet sich dem Konsum auf dem Land am Beispiel von Merxleben. Er zeigt auf, dass das gemeinsame Kantinenessen in der LPG bis zum Systemwechsel für eine gewisse Gleichheit unter den Einwohnern sorgte, während beim Lebensmittel-Einkauf wie auch bei der Beschaffung von Baumaterialien persönliche Beziehungen und Netzwerke demgegenüber für Ungleichheit sorgten. Im Wohnen manifestierte sich soziale Ungleichheit vor wie nach 1989 durch Um- und Anbauten an den dort vorherrschenden Eigenheimen, wobei nach dem Systemwechsel die Verfügung über ökonomisches Kapital ausschlaggebend wurde. Nichtsdestotrotz war das Eigenheim ein gewisser Stabilitätsanker in Zeiten des Wandels.

In Wurzen wurde die soziale Ungleichheit beim Einkauf zu DDR-Zeiten – zum Beispiel im Intershop – sehr kritisch gesehen, da die Ungleichheit nicht auf individueller Arbeitsleistung, sondern eher auf personalen Netzwerken und der Verfügbarkeit von westlicher Währung beruhte. Die Ungleichheit in der Wohnraumzuteilung in den 1980er-Jahren beruhte ebenfalls nicht auf materiellen, sondern auf anderen Kriterien wie politischer Nähe zur SED oder der Anzahl der Kinder. Nach dem Systemwechsel entstand keineswegs sofort ein freier Wohnungsmarkt: Erst mit einer zeitlichen Verzögerung machten sich ab circa Ende 1993 Prozesse der sozialen Segregation und Suburbanisierung geltend.

In Leipzig richtete sich ähnlich wie in Wurzen die Kritik der Bevölkerung in den 1980er-Jahren weniger gegen das Leistungsprinzip an sich als vielmehr gegen dessen intransparente und inkonsequente Umsetzung durch die Funktionäre. Die vermehrt auftretenden Engpässe im Handel zerstörten das Vertrauen in die SED, wobei in der friedlichen Revolution ökonomische Motive vor allem in der zweiten Phase nach dem 9. November zum Tragen kamen. Hinsichtlich des Wohnens dominierten in Leipzig bis 1989 Mietverhältnisse in Alt- oder Neubauwohnungen. Die Mieter nahmen eine eigentümerähnliche Position ein und verwendeten viel Zeit auf Praktiken des Heimwerkens. Nach dem Systemwechsel mussten sie sich zunehmend juristisches Wissen aneignen, da dann Renovierungen und Umbauten nicht mehr ohne Genehmigung des Eigentümers durchgeführt werden konnten. Der Anstieg der Mieten beförderte jedoch ähnlich wie in Wurzen ab circa 1993 Prozesse der Suburbanisierung. In den 1991 und 1992 geführten Interviews drückten viele Leipziger grundsätzliche Zustimmung zur Idee des Sozialismus aus, die nur in der DDR falsch umgesetzt worden sei. Gleichzeitig wurden Konflikte aus der Zeit vor 1989 ausgeklammert und die gemeinsame Bewältigung von Versorgungsengpässen idealisiert. Gleichzeitig überwog die grundsätzliche Zustimmung zur Marktwirtschaft in Verbindung mit dem Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit.

Insgesamt bietet die Studie viele interessante Einzelergebnisse, die hier auch nicht ansatzweise wiedergegeben werden können, zum Beispiel zur Veränderung und Kontinuität von Zeitstrukturen, über innerfamiliäre Machtverhältnisse, den Aufbau von Vertrauen in verschiedenen Systemen, die Zuschreibung von Konsumentenmacht als Herrschaftstechnik, die Kontinuität von Wissensordnungen etc. Bisweilen scheint darüber etwas der rote Faden verloren zu gehen. Andererseits erscheinen manche Ergebnisse auch hinlänglich bekannt, etwa, dass soziale Ungleichheit im Sozialismus eher auf persönlichen Beziehungen beruhte und im Kapitalismus auf individuellem Einkommen oder Vermögen, oder dass das Prinzip der Rückgabe vor Entschädigung die Ausbildung eines effektiven Immobilienmarktes zu Beginn der 1990er-Jahre behinderte. Die eingangs zitierte Schlussthese des Buches, dass die DDR-Bürger die Leistungsgesellschaft wollten, aber den Kapitalismus bekamen, kommt am Ende einigermaßen überraschend, zumal Villinger die Bedeutung des Konsums für die friedliche Revolution zunächst herunterspielt.

Generell bestätigen die Ergebnisse der Studie jedoch, dass die Versorgungsengpässe und die als ungerecht wahrgenommenen Unterschiede in der Versorgung mit Konsumgütern zur Legitimationskrise der DDR in den 1980er-Jahren nicht unwesentlich beitrugen. In der friedlichen Revolution spielte der Konsum in der Bundesrepublik als "Erwartungshorizont" eine wichtige Rolle, wobei eine idealisierte Vorstellung von Marktwirtschaft vorherrschte, die mit der Anfang der 1990er-Jahre einsetzenden Massenarbeitslosigkeit enttäuscht wurde. Ob tatsächlich der Leistungsgedanke für diesen Prozess so zentral war wie der Autor behauptet, sei dahingestellt.

Die Studie ist anregend und insgesamt gut lesbar. Allerdings müssen auch einige Kritikpunkte angeführt werden: An manchen Stellen wird hinlänglich Bekanntes ausführlich referiert. Muss wirklich das Konzept der "Lebenswelt" von Schütz und Luckmann noch detailliert erläutert werden (S. 48f.)? Oder der Ansatz der Historischen Anthropologie (S. 32)? Auf der anderen Seite fehlt dafür die Diskussion wichtiger Werke, die eigentlich zum Forschungsstand gehören.1 Hinzu kommen einige kleinere sachliche Fehler: Die Stiftung Warentest ist keine "kommerzielle Anbieterin" (S. 400) und das System der sekundären Rohstofferfassung (SERO) wurde nicht aus ökologischen Gründen ins Leben gerufen (S. 405). Dass die zugegebenermaßen verklausulierte Sprache der DDR-Akten keine Rückschlüsse auf die Versorgungssituation vor Ort zuließe (S. 94f.), ist ebenfalls unrichtig.2 Schließlich sollte in der DDR die Verteilung von Ressourcen keineswegs auf der Grundlage individueller Arbeitsleistung erfolgen (S. 495). Vielmehr differierten die Löhne nach Industriezweig und zum Teil nach Betrieb. Auch Prämienzahlungen wurden häufig an die Leistung eines Kollektivs (etwa einer Brigade) geknüpft und nicht an die individuelle Arbeitsleistung.3

Insgesamt überwiegt dennoch der positive Eindruck. Auch wenn nicht alle Ergebnisse der Studie neu sind, so hat Villinger doch ein bislang unbeachtetes Quellenkorpus erschlossen und einige bemerkenswerte Ergebnisse zutage gefördert.

Anmerkungen:
1 Als Beispiele: Rainer Gries, Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR, Leipzig 2003; ders., Der Geschmack der Heimat. Bausteine zu einer Mentalitätsgeschichte der Ostprodukte nach der Wende, in: Deutschland Archiv 27 (1994), S. 1041–1058; Christoph Boyer, Grundlinien der Sozial-und Konsumpolitik der DDR in den siebziger und achtziger Jahren in theoretischer Perspektive, in: Renate Hürtgen (Hrsg.), Der Schein der Stabilität. DDR-Betriebsalltag in der Ära Honecker, Berlin 2001, S. 69–84; Christoph Boyer / Peter Skyba, Sozial- und Konsumpolitik als Stabilisierungsstrategie. Zur Genese der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" in der DDR, in: Deutschland Archiv 32 (1999), S. 577–590.
2 Als Beispiel führt Villinger die folgende Aussage an (S. 94f.): "Mit Südfrüchten wird nach Schwerpunkten versorgt, um mit den um 25 % geringeren Mengen gegenüber 2./1981 den höchsten Versorgungseffekt zu erzielen." Das bedeutet schlicht und ergreifend, dass es keine Bananen gab (außer in wenigen ausgesuchten Läden, den sogenannten "Schwerpunkten").
3 Vgl. Peter Hübner, Arbeit, Arbeiter und Technik in der DDR 1971 bis 1989. Zwischen Fordismus und digitaler Revolution, Bonn 2014 (Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Bd. 15), S. 277–300; Thomas Reichel, "Sozialistisch arbeiten, lernen und leben". Die Brigadebewegung in der DDR (1959–1989), Köln 2011.

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